Über die Textsammlung
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Sammlungen, die DDR-Texte enthalten.
Genannt seien vor allem das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) (http://www.dwds.de/), erarbeitet von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (www.bbaw.de/) sowie das von Manfred W. Hellmann zusammengestellte Wörterbuch zum ‚Wendekorpus’ des Instituts für Deutsche Sprache (IDS).
Das IDS-Wendekorpus beschränkt sich allerdings auf Wörter in Texten der Wendezeit, es dokumentiert und beschreibt damit typische sprachliche Gebrauchsweisen der öffentlichen Kommunikation im Prozess der Wende in der DDR und der deutschen Vereinigung. Das Wendekorpus DDR hat einen Umfang von 1.546 Millionen laufender Wörter des Zeitraumes Mai 1989 bis Ende 1990 und ermöglicht den unmittelbaren Zugriff auf die zu Grunde liegenden Belegtexte.
Das DWDS umfasst neben dem Kernkorpus ein DDR-Korpus mit 9 Millionen Textwörtern in 1150 Texten aus dem Zeitraum von 1949 bis 1990. Die Texte entstammen den Bereichen Belletristik, Zeitungen, Wissenschaft, Gebrauchstexte sowie offizielle gesprochene Sprache und wurden ausschließlich publizierten Quellen entnommen. Diese Einschränkung auf veröffentlichte Texte führt dazu, dass der tatsächliche Sprachgebrauch in der DDR nur unvollständig wiedergegeben wird. Typische DDR-sprachliche Elemente kommen entweder gar nicht vor oder sind unterrepräsentiert. Weder die 2-Raum-Wohnung noch der Broiler, für viele Außenstehende d a s Symbol der DDR-Sprache schlechthin, sind im DWDS verzeichnet.
Das h i e r zusammengetragene DDR-Korpus versteht sich als Ergänzung zu den bereits vorliegenden Sammlungen von DDR-Texten. Wenn die Vielfalt des DDR-Sprachgebrauchs sichtbar werden soll, muss das Korpus erweitert werden – durch halböffentliche und private Textsorten. Nur so erhalten wir einen Einblick in die 40-jährige DDR-Sprachwirklichkeit in ihrer Differenziertheit und historischen Entwicklung. Auch Sozial- und Geisteswissenschaftler greifen bei der Beschreibung allgemeiner gesellschaftlicher sowie spezieller kultur- oder bildungspolitischer Prozesse häufig auf den Sprachgebrauch zurück. Ihnen – aber auch allen anderen Interessierten – soll das hier vorgelegte DDR-Korpus zur Verfügung stehen, um Fragestellungen verschiedenster Art beantworten zu helfen.
Das hier vorgestellte Korpus enthält 1170, vornehmlich a l l t a g s s p r a c h l i c h e Texte aus den vier Jahrzehnten der DDR. In den Texten werden Wirklichkeitsbereiche wie Politik, Schule, Lehre, Studium, Arbeitswelt, Freizeit und Familie, aber auch Werbung und Warenwelt erkennbar. Die Texte sind von Einzelpersonen oder Institutionen produziert worden, die zwischen dem 7. Oktober 1949 und 2. Oktober 1990 in der DDR gelebt oder existiert haben.
Bei den halböffentlichen Textsorten handelt es sich um:
- Miet-, Arbeits-, Ausbildungs- und Patenschaftsverträge,
- Lebensläufe,
- Bewerbungsschreiben,
- Hausordnungen,
- Geschäftsbriefe,
- Leserbriefe,
- Eingaben,
- Brigadetagebücher,
- Gebrauchsanweisungen,
- Speisekarten,
- Produktionsberatung im Industriebetrieb,
- Diskussion in der Erweiterten Oberschule
Die private Kommunikation wird durch folgende Textsorten erfasst:
- private Briefe,
- Kontakt- und Todesanzeigen
Diese Texte liegen fast ausschließlich in nicht publizierter Form vor. Die Mehrzahl wurde aus Museen, Archiven und von Privatpersonen zusammengetragen. Es sind vornehmlich schriftliche, aber auch einige mündliche Texte, die im Originalton und in einer einfachen Transkription präsentiert werden. Da die Texte unterschiedlichen Quellen entstammen, liegt ein Teil in digitalisierter Form vor, wohingegen die anderen als Faksimiles erscheinen. Einige Texte sind aus dem 1995 publizierten Sammelband „Mit sozialistischen und anderen Grüßen. Porträt einer untergegangenen Republik in Alltagstexten“ übernommen worden. Infolge dieser Quellenlage erfolgte die Anonymisierung der Textproduzenten oder der in den Texten auftretenden Personen auf unterschiedliche Weise. Die bereits in der Publikation von 1995 vorgenommenen Namensänderungen wurden beibehalten. In den anderen Dokumenten wurden die Namen geschwärzt.
Die Texte können in alphabetischer sowie chronologischer Reihenfolge, geordnet nach Textsorten oder Wirklichkeitsbereichen eingesehen werden. Um die 40-jährige Entwicklung der DDR auch an einzelnen Textsorten zu veranschaulichen, wurden die Texte in Zehnjahresschritten zusammengefasst, so dass zwischen Texten der 50er, 60er, 70er und 80er Jahre unterschieden wird. Durch einen Vergleich dieser Textsorten in den einzelnen Jahrzehnten ist es möglich, den Wandel im Sprachgebrauch wie die Herausbildung bestimmter Textmuster sowie die sich verändernde Wortwahl zu erkennen. Damit gibt das Korpus Auskunft über die sprachliche Kommunikation vom Anfang bis zum Ende der DDR-Gesellschaft, es widerspiegelt das Entstehen und Vergehen von Textmustern sowie deren Kontinuität und Wandel.
Als Muster für die weitere Arbeit an diesem DDR-Korpus liegen die Textsorte „Kontaktanzeigen“ und eine Sammlung von 120 „Privatbriefen“, die von Ost nach West geschickt wurden, vor. Sie wurden mit Unterstützung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbereitet und sind unter http://telota.bbaw.de/kontaktanzeigen und http://telota.bbaw.de/pvd einsehbar. Finanziell unterstützt wurden die Sammlung der Texte und deren technische Bearbeitung durch das Institut für deutsche Sprache und Linguistik der Humboldt-Universität sowie die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.
Dass dieses Korpus nur einen Ausschnitt alltagssprachlicher Textsorten enthält, ist uns bewusst. Während der halböffentliche Bereich durch Kino- und Theaterprogramme, durch schulische Texte wie Klassenarbeiten, Aufsätze oder Mitschnitte von Unterrichtsstunden ergänzt werden sollte, fehlt für die private Kommunikation neben einer Ausweitung der Brieftexte die Wiedergabe von privaten Tagebüchern sowie privaten Gesprächen, die besonders schwer zugänglich sind.
Das vorliegende Korpus möge Anregung sein, es durch andere halböffentliche oder private Textsorten zu ergänzen und somit die Sicht auf Sprache in der DDR durch die alltagssprachliche Dimension zu komplettieren. Es kann den Nachgeborenen ein lebendiges und nachvollziehbares Bild von einer differenzierten Sprachwirklichkeit vermitteln – und damit journalistische oder politisch motivierte Darstellungen ergänzen, in denen diese Sprachwirklichkeit oft verkürzt, anonym, leblos und schwarzweiß erscheint.
Ruth Reiher, 2006