Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft

6. Letos (WiSe 25/26)

Die Tage werden kürzer, die Nächte länger. Im Zwielicht verwischt die Grenze zwischen den Welten. Untote Sprachen steigen aus ihren Büchersärgen und flüstern durch die Gänge: Akkadisch, Altarmenisch, Sanskrit… Bei unserem 6. Leseabend der (un-)toten Sprachen an Samhain/Halloween musste man stahlharte Nerven haben, um das Programm durchzustehen.

Das Grauen begann mit unseren guten Bekannten aus der Altorientalistik der FU: Ayşe Özler und Johannes Felmy, die uns eine abenteuerliche Reise in die Unterwelt des Gilgamesch-Epos auf Akkadisch präsentierten.

Schrecklich, schaurig, schallend intonierte der Chanty-Chor der HU Berlin einen Hymnus aus dem Rigveda, der die Götter Indra und Soma zum heroischen Kampf gegen gestaltwandlerische Tier-Dämonen, die fiesen rakṣasa, auffordert.

Einer unserer Kommilitonen nannte den Vortrag von Kierán Meinhardt, Sira Lengert und Sumru Topcuoğlu liebevoll „Bibel-Fanfiction auf Koptisch“. Auch die Bezeichnung „Soap-Opera“ könnte in diesem Zusammenhang gefallen sein... Die drei stellten uns die Geschichte des Todes von Jesus‘ Vater Joseph basierend auf einem koptischen Dialog vor. Ob das wirklich Gruselige daran Josephs Todesvisionen sind oder die Tatsache, dass die Geschichte den Bechdel-Test nicht besteht, wollen wir nicht entscheiden (aber letzteres trifft wohl auf alle biblischen und bibelnahen Texte zu).

Tomoki Kitazumi zeigte uns in seinem Vortrag, wie der altarmenische Autor Ezniks von Kolb mit Mitteln der Grammatik „Wider die Irrlehren“ der Ketzer kämpft und sie aufgrund ihrer falschen Pluralverwendungen in Grund und Boden argumentiert.

Mittelirisch ist für diejenigen, die es lernen wollen, vielleicht an sich schon furchtbar genug, aber – wie Lukas Kahl uns gezeigt hat – sind auch die Inhalte der Texte oft äußerst grauenhaft. „Die Verzerrung des Cú chulainn“ behandelt eine Episode aus dem mittelirischen Epos Táin bó Cúailnge, in der der Held Cú Chulainn sich, ähnlich wie Achilles in der Ilias, beim Kampf gegen eine feindliche Übermacht in einen monströsen Berserker verwandelt. Diese Transformation, das Aufgehen des „Heldenmonds“ (lúan láith), wird in den Texten sehr genau – Sehne für Sehne – beschrieben.

 

 

 

 

 

Unser Orga-Team

Theresa Maria Roth und Kierán Meinhardt

wurden davon besonders fasziniert.

 

 

 

 

 

 

 

Mit dem leider heute noch immer allgegenwärtigen und auf sehr reale Weise grausamen Thema häusliche Gewalt gegen Frauen ging unser Halloween-Letos nach der Pause prompt und harsch weiter, nämlich mit dem mittelalterlichen Frauenlied Por coi me bait mes maris „Warum schlägt mich mein Mann“. Herzzerreißend liebkoste uns Anne Grischeck auf Altfranzösisch mit ihrem Gesang,

 

 

während sie von Olga Olina auf der schwedischen Nyckelharpa virtuos begleitet wurde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anschließend wurde ein grausiges Theaterstück in klassischem Sanskrit, basierend auf dem Śukasaptati („70 Erzählungen“ eines Papageien) auf die Bühne gebracht. Zacharias van Stek übernahm als Papagei die Rolle des Erzählers und führte uns durch die Szenen:

Zwei Dämonen (Ivy Müller und Beatrice Yefimov) streiten sich darüber, welche ihrer Ehefrauen (Bruno Behling, Denis Hill) die schönere sei.

Da kommt Mūladeva (Marlene Ohm), der König der Schurken, vorbeigeschlendert und die Dämonen, nachdem sie sich über die Frage bereits heftig am Boden
gefetzt haben, zwingen ihn unter Drohungen, ein Urteil zu sprechen.

 

 

Nach einem kurzen Blick auf die Ehefrauen der Dämonen…ew…
entschließt sich Mūladeva zu einem „salomonischen Urteil“. Schönheit liege im Auge des Betrachters: Die, die man lieber hat, ist immer auch die schönere.

 

Daraufhin lassen die Dämonen den Schurken verwirrt frei und rätseln über seine Worte. Sie realisieren, dass sie eigentlich einander am lieblichsten finden und „walzieren“ beschwingt von der Bühne (das Ende war, wie man vielleicht bemerkt, eine freie Interpretation der Inszenierung).

 

Selbst der Tod entkommt der Wirkung des Alkohols nicht – diese Einsicht konnte man zumindest aus dem Schauspiel von David Bolter, Lena Haden, Carsten Becker und Nele Arnold gewinnen, die uns den mittelniederdeutschen „Berliner Totentanz“ (aus der Marienkirche) vorgestellt haben. Der Tod kommt immer im falschen Moment und seine Opfer bitten um Aufschub – unter kreativ emendiertem Einsatz verschiedener Bestechungen. Der Originaltext ist an manchen Stellen sehr wenig bis gar nicht erhalten, was die vier Schauspieler:innen zu einer freien Hinzudichtung inspiriert hat: Am Ende spricht der Tod in unvollständigen und unverständlichen Worten, weil er aufgrund der Bestechungen seiner eigenen Zunge nicht mehr mächtig ist.

Jana Oborovski von der Berliner Staatsbibliothek gab uns einen Einblick in den altkirchenslavischen „Orthros für die Entschlafenen“ (einen morgendlichen Gottesdienst für die Toten) aus dem Jahr 1639, inklusive mehrerer moderner Beispiele für dessen Vertonung.

 

 

Unserem Priester Henrik Hornecker gelang es, eine schöne Brücke zwischen Halloween und dem Reformationstag zu schlagen. Als Vertreter der Lutheraner stellte sich Priester Henrik vors Publikum und predigte uns, den Prinzipien der Gegenreformation äußerst kritisch gegenüberzustehen. In der Postilla Catholicka, einer Sammlung von Beispielpredigten zum Evangelium von 1599, fand unser Priester Henrik eine echte Gruselgeschichte über die Papisten. Sie schildert, wie selbst einem Geköpften noch die Beichte abgenommen werden soll – unter Wiederzusammenfügen von Kopf und Körper – Blasphemie!

 

 

Das „Ende mit Schrecken“ bildete Alex Kohl mit einer tschagataiischen Geschichte über Alexander den Großen, der einen enormen Friseurverschleiß hatte, weil er alle sofort hinrichten ließ, die beim Haareschneiden zu sehen bekamen, dass er Hörner auf dem Kopf trug. Er wird jedoch von einem schlauen Friseur ausgetrickst, der sich verpflichtet, das Geheimnis zu bewahren. Obwohl er es nur einem Fluss anvertraut, erfährt es am Ende aber doch die ganze Welt, weil zwei Schilfrohre vom Ufer zu Flöten geschnitzt werden und fortan überall ein Lied davon singen.

 

 

 

 

Wir freuen uns, dass dieses Mal so viele Interessierte den Weg an die HU gefunden haben, um sich zusammen mit uns zu gruseln, und freuen uns (wie immer) schon auf den nächsten LetoS!